Reinhard Hauff bei Achim Kubinski
Damals, als Juri Gagarin als erster Mensch mit einem Raumschiff die Erde umrundete und Neil Armstrong 1 969 angeblich den Mond betrat - war Matti Braun gerade geboren.
Damals beschäftigten sich Designer mit visionären Wohnmodellen, entwarfen autarke Wohneinheiten aus klimatisierten Einzelsegmenten und "koordinierten Maschinen", wie Joe Colombo sie nannte. Man arbeitete mit dem Bayer-Konzern zusammen, stellte Liegewiesen mit integrierten Fernsehapparaten, stapelbare Plastikstühle und Sessel aus Polyrethan, mit Namen wie "UP 1 ", her.
"UP S" wurde auch "Donna" genannt. Man kaufte diese Möbel auf ein Zehntel ihres Volumens zusammengepreßt und vakuumverpackt in einer flachen Schachtel. Nahm man die Hülle ab, dehnten sie sich zu voller Größe aus. Utopie war alles, wofür sie standen und dies nicht nur industriell. In jenem "UP 5"-Sessel saß man, den Kopf zwischen zwei großen Brüsten, die Arme auf stilisierten Oberschenkeln, wie an Mutters Bauch. Die italienische Firma Zanotta brachte 1 968 einen aufblasbaren PVC-Sessel auf den Markt, der als "große Puppe, die dich umarmt und im Schoß hält" angepriesen wurde.
Es ging darum, ein Neuland des Wohnens zu entdecken - Möbel, "die zu neuen physiologischen und psychologischen Funktionen stimulieren", so die Zeitschrift Form. "Es sind Konstruktionen, die durch optische und akustische Eindrücke den Benutzer in überirdische Sphären der Entspannung, der Glückseligkeit, der Liebe transponieren wollen." Die drei Wiener Architekten Ortner, Zamp und Pinter, die sich "Love Protectors" nannten, versprachen für ihre Vollplastikliegeschleusen: "Sie werden besser denken und besser lieben, weil sie ruhiger sind und entspannter." Der Sitzsack und auch das signalrote, dalieske Lippensofa stammen aus dieser Zeit. In ihrer offensiven sinnlichen Art schlugen sie ihre rationalen und puristischen Vorläufer zeitweise leicht aus dem Rennen.
Matti Brauns Sofas, Sessel und Hocker sind Nachahmungen, keine Ready-Mades, sondern neu hergestellt. Schicht um Schicht wird die Form laminiert, der glasfaserverstärkte Kunststoff eingefärbt. Nach dem Aushärten werden die Kanten verschliffen. Zwei Tage dauert es ungefähr, bis ein neues dieser bonbonfarbenen Ungetüme fertig ist. Sie verkörpern das reine Begehren. Sie bringen ihr Innerstes penetrant nach außen. Wer nicht zumindest kurz seine Hand auf sie legt, beleidigt sie. Sie sind hart. Immer wieder sieht man Benutzern diese Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Die Skulpturen fangen einen nicht auf: "Utopie" ist ein griechisches "Nirgendheim" - unerreicht.
Pop kann sich nicht entscheiden, ob er dagegen oder dafür ist. Er hat keine Angst vor der Realität. Er wird erst mal von jedem verstanden. Trotzdem umgibt ihn eine Aura der Dissidenz, so als kämpfe er um Anerkennung, die er einerseits längst hat, andererseits nicht braucht und will. In dem Maß, wie sich die traditionellen Muster von Hochkultur auflösten, wurde er zur Strategie der Auseinandersetzung - auch sozial. Die Analyse der Verhältnisse führt nicht mehr zu Büchern wie "Das Kapital", sondern gleich zu Oberflächen. Ihre Rebellion liegt in der Bejahung der Vereinnahmung. Pop ist nicht visionär, sondern greift Trends auf. Er ist extrem wandlungsfähig und verschleißt ständig Ikonen. Er ist seriell und in seiner Breitenwirkung effektiv demokratisch: für alle und überall. Er ist da. Er ist leicht. Die Vorstellung eines herstellenden Individuums mit Atemschutz liegt ebenso außerhalb dieses Universums wie das Prädikat "handmade". Matti Brauns Sofas stehen für das Machbare.
Plastik als Material verkörpert die Idee der endlosen Umwandlung. Es ist alltäglich. Es begegnet uns als Küchenschüssel, als Gehäuse technischer Geräte, als Zahnbürste, Spielzeug oder als orthopädisch wertvoller Sitzball. Plastik kommt nicht vor, sondern ist unendliche Produktion, omnipotenter Traum, perfekt für die Welt des Scheins. Durch seinen hohlen, matten Ton verrät es sich aber. Roland Barthes stellt fest: "Sein Geräusch vernichtet es, so wie auch seine Farben, denn es scheint nur die besonders chemischen fixieren zu können: Gelb, Rot, Grün, es behält von ihnen das Aggressive, gebraucht sie einzig wie einen Namen, der nur in der Lage ist, Begriffe von Farben zur Schau zu stellen." Irgendwie bleibt Plastik Imitation. Auch wenn es meist nicht mehr so tut, als ob es Holz wäre oder etwas anderes, führt es immer den Stolz seiner Möglichkeiten vor. Es ist hyperreal und befriedigt: sauber, glatt, aus einem Stück.
Gabriele Mackert
Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff
Paulinenstr. 47
D – 70178 Stuttgart
Opening Hours:
Tuesday – Friday: 1 – 6 p.m.
and by appointment
Winter Break:
The gallery is closed from 21.12.2024 until 07.01.2025